Die Entschlüsselung von Kriegsbildern in Syrien

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Rakka in Syrien (2018). Foto mit freundlicher Genehmigung von Amnesty International verwendet.

Das Internet ist ein mächtiges Werkzeug, wenn Menschenrechtsverteidiger es dazu verwenden, gefährdete Menschen weltweit zu schützen und ihnen Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen. Dieses Potenzial nutzte Amnesty International, um die Decoders ins Leben zu rufen: eine Community von über 50.000 ehrenamtlichen, digitalen Helfern aus mehr als 150 Ländern, die ihre Zeit und Fähigkeiten zur Unterstützung der Menschenrechtsforschung einsetzen.

Die Decoder (dt. etwa: Dekodierer) unterteilen Rechercheprojekte in sogenannte Microtasks, die jeder erledigen kann, der eine Internetverbindung hat. Indem sie die immensen Aufgaben auf eine sehr große Gruppe verteilen, sind diese viel leichter zu bewältigen.

In den Untersuchungen, die Amnesty International kürzlich zu den zivilen Todesopfern in der syrischen Stadt Rakka durchgeführt hat, spielten die Dekodierer eine zentrale Rolle. Das globale Netzwerk ehrenamtlicher Helfer wurde aktiviert, um das Ausmaß der Zerstörung in dieser Stadt ohne jeglichen Zweifel belegen zu können.

Rakka war einst mit über 200.000 Einwohnern die sechstgrößte Stadt Syriens, bis sie 2017 in nur vier Monaten weitestgehend dem Erdboden gleichgemacht wurde. In einer Militäroperation, geleitet von einer US-geführten Koalition, prasselten von Juli bis Oktober Luftangriffe und Artilleriefeuer auf die Stadt nieder. All dies geschah im Rahmen des Bürgerkriegs in Syrien, mit der Absicht die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) aus Rakka zu vertreiben.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Airwars schlugen von Anfang an Alarm, dass in diesen Angriffen Zivilisten getötet werden. Als die Koalition am Ende ihren Sieg erklärte, war Rakka zu nahezu 80 Prozent zerstört. Hunderte Zivilisten kamen ums Leben und Tausende waren verletzt.

Doch unmittelbar nach Ende des Kampfes erkannte die Koalition lediglich 23 zivile Todesopfer an. Menschenrechtsverteidiger aus aller Welt waren bestürzt. „Wir dürfen nicht akzeptieren […], dass sie ihre Hände davon reinwaschen“, sagte Conor Fortune, leitender Kommunikationsberater des Krisenteams von Amnesty International. „Wir wollen, dass diesen Menschen Gerechtigkeit widerfährt.“

Um die Anzahl der zivilen Opfer aufzeichnen zu können, ermittelte Amnesty International das Ausmaß der Zerstörung vor Ort, interviewte Hunderte von Überlebenden, sammelte Beweismaterial auf den sozialen Medien und führte eine professionelle militärische und raumbezogene Analyse durch.

Die Dekodierer nahmen sich im Zuge der Ermittlungen einer ganz spezifischen Aufgabe an: Amnesty wollte den exakten Zeitpunkt der Zerstörung jedes einzelnen Gebäudes in Erfahrung bringen.

Die Zerstörung eines Gebäudes stellt an sich keinen direkten Verstoß gegen das Kriegsrecht dar, selbst wenn sich noch Zivilisten darin befinden. Ein zeitlicher Verlauf zur Vernichtung der Stadt könnte jedoch mit dem zusätzlichen Beweismaterial von Amnesty International und seinen Partnerorganisationen kombiniert werden, um die Anzahl ziviler Opfer präziser zu bestimmen.

Um die freiwilligen Helfer bei ihren Nachforschungen zu unterstützen, entwarf Amnesty die Online-Applikation Strike Tracker, die Satellitenbilder in einem Zeitstrahl auf dem Smartphone oder Laptop abbildet. So kann das Datum vor und nach der Zerstörung eines jeden Gebäudes in Rakka genau festgelegt werden.

Mehr als 3.000 ehrenamtliche Decoder loggten sich ein, um zu helfen. Insgesamt verbrachten sie über 4.000 Stunden damit, zwei Millionen Bilder zu durchforsten und herauszufinden, wann mehr als 11.200 Gebäude zerstört wurden. Die Kreativität, Gründlichkeit und das technische Know-how der Decoder von Amnesty zeigt, dass digitaler Aktivismus sich nicht darauf beschränken muss, Posts zu „liken“ oder Petitionen zu unterschreiben: Er kann den Menschen auch die Gelegenheit bieten, sich auf sichere und bedeutende Weise an echten Untersuchungen für Menschenrechte zu beteiligen.

Ohne das Internet, ehrenamtliche Helfer, hochauflösende Satellitenbilder und die quelloffene Crowdsourcing-Software Hive hätte Amnesty International derart umfangreiche Ermittlungen gar nicht durchführen können – vor allem im Hinblick auf den zeitlichen Rahmen und die Ressourcenknappheit, gegen die die Organisation ankämpfen musste.

Das Ergebnis dieser 18-monatigen Untersuchung ist eine digitale Multimediaplattform, die die Arbeit der Decoder mit den Nachforschungen und Beweismaterialien von Amnesty, Airways und anderen Partnern vereint. Dieser gemeinsame Kraftakt macht das Ausmaß der Verwüstung und den Verlust zivilen Lebens greifbar und hat die Koalition dazu veranlasst, ihre Zahl anerkannter ziviler Opfer zu korrigieren.

Neben der Unterstützung der digitalen Helfer weltweit gibt es zahllose Beispiele dafür, wie die Syrer selbst im Laufe des Konflikts Online-Aktivismus betrieben und entsprechende Blogs, Geschichten und Bilder veröffentlicht haben. Das Internet ist somit in vielerlei Hinsicht ein Medium für den unvorstellbaren Verlust menschlichen Lebens, die Zerstörung und den verzweifelten Wunsch, nicht vergessen zu werden – sowohl im eigenen Land als auch außerhalb.

Wie kann das Internet für Frieden und Menschenrechte eingesetzt werden?

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