Den Regierungen der Welt stehen unterschiedliche Systeme zur Verfügung, um ihre Bürger zu identifizieren. Viele Länder preschen derzeit in der Einrichtung digitaler Identitätssysteme vor, die sowohl online als auch offline zum Einsatz kommen können. Wie diese Systeme gestaltet und welche Maßnahmen zum Schutz der Bürger ergriffen werden, haben nicht nur die Regierungen selbst in der Hand, sondern auch die größten Tech-Unternehmen und globale Regierungseinrichtungen wie die Weltbank.
Digitale Identitätssysteme sind zur Bekämpfung eines großen staatlichen Problems gedacht, nämlich der Tatsache, dass etwa 1,1 Milliarden Menschen auf der Welt keine rechtliche Identität besitzen. Diese nicht identifizierten Menschen laufen Gefahr, von staatlichen Diensten ausgeschlossen zu werden und sind einer der Gründe für die Ungenauigkeit von Bevölkerungsstatistiken.
Dieses Problem wird auch in den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen erwähnt, denen zufolge bis 2030 „alle Menschen eine rechtliche Identität haben sollen“. Diese grundsätzliche Notwendigkeit der rechtlichen Identifizierung wird oft so ausgelegt, dass materielle Ausweise durch biometrische, digitale ID-Systeme ersetzt werden sollen, die universell verwendbar sind.
Zum Beispiel regt die Weltbank in ihrer „Identification for Development“-Initiative Entwicklungsländer dazu an, sonstige Schritte zu überspringen und gleich zur Einführung biometrischer und digitaler Identitäten überzugehen, um Betrugsversuche zu verhindern und für mehr Effizienz zu sorgen. Dieser Sprung bringt jedoch ganz eigene Risiken und Sorgen mit sich und sollte nicht bedenkenlos vollführt werden.
Digitale ID-Systeme setzen sich üblicherweise aus kleineren Datenhäppchen über eine Person zusammen, zum Beispiel aus ihrer Wohnadresse, ihrer Staatsbürgerschaft, ihrem Familienstand, ihren Finanzinformationen und oft auch aus ihren biometrischen Daten (Fotos, Fingerabdrücke, Irisscans oder sogar DNA). Diese Informationen können für die unterschiedlichsten Zwecke verwendet werden – zur Einziehung von Steuern, zur Einteilung von Essensrationen, zur Bestätigung der Wahlberechtigung und so weiter. Solche Systeme verwenden zum Beispiel smarte Chipkarten mit biometrischen Daten oder vergeben einmalige Identifikationsnummern an Personen, die zum Überprüfen und Bestätigen ihrer Identität ihre Handys nutzen. Die verschiedenen Möglichkeiten die Systeme untereinander zu verknüpfen, ergeben ein mächtiges Instrument zur Massenüberwachung.
In der Praxis sind viele dieser Systeme hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Sie werden oft von Privatfirmen auf der Basis vager Regierungsverträge erstellt und verwaltet, die den Menschen, wenn überhaupt, nur sehr wenige Möglichkeiten geben auf Probleme hinzuweisen oder sich über Fehler zu beschweren. Gerade für marginalisierte oder anfällige Bevölkerungsgruppen hat ein solches System oft drastische Konsequenzen.
Zum Beispiel verwendet Indien ein ID-System namens Aadhaar, welches für den Zugang zu grundlegenden öffentlichen Diensten und Leistungen wie Bildung, dem Gesundheitswesen und Essensrationen unentbehrlich geworden ist. Allerdings haben einige Bewohner des Landes aufgrund von technischen Fehlern und Störungen im System keine Möglichkeit, auf lebenswichtige Ressourcen wie Essenskarten zuzugreifen. Darüber hinaus führte eine Reihe an Vorfällen dazu, dass die persönlichen Daten von Millionen Aadhaar-Nutzern im Internet veröffentlicht wurden. So könnten Informationen, die zur Identifikation einer Person gedacht sind, missbraucht werden und Schaden anrichten.
2017 zogen Vertreter der Zivilgesellschaft vor den Obersten Gerichtshof Indiens, um Aadhaar aus datenschutzrechtlichen Gründen zu verklagen. Obwohl das Gericht einstimmig beschloss, dass Datenschutz ein grundlegendes Recht darstellt und aufrechterhalten werden muss, schreitet das Programm weiterhin unaufhaltsam voran. Technologie- und Politikexperten arbeiten zwar daran, Aadhaars Schwächen in Sachen Sicherheit und Datenschutz aufzudecken, ihre Bemühungen werden von staatlicher Seite aber nicht gern gesehen.
Indien ist nicht das einzige Land, in dem ein nationales ID-System auf zivilgesellschaftlichen Widerstand gestoßen ist. In Kenia verklagten Menschenrechtsgruppen die Regierung wegen ihres nationalen, integrierten Identitätsmanagementsystems (National Integrated Identity Management System, kurz: NIIMS), das Erbgutinformationen, Häuserstandorte und weitere Daten erfassen und bald obligatorisch verwendet werden sollte. Dank der Petitionen, die von der Zivilgesellschaft eingereicht worden waren, setzte das Oberste Gericht Kenias grundlegende Elemente des Plans im April aus.
Estlands Programm der digitalen Staatsbürgerschaft wurde hingegen für seine hohe Zugänglichkeit, seinen starken (wenn auch nicht perfekten) Sicherheitsschutz und seine robuste Integration in staatliche Behörden gelobt. Es ist so designt, dass der Nutzer letztendlich die Kontrolle hat und nicht die Instanzen, die den Identitätsnachweis ausstellen oder anfordern.
Wenn sie richtig umgesetzt werden, können ID-Systeme schwache und unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen stärken. Allerdings ist alles andere als klar, ob digitale (und vor allem biometrische) Systeme unbedingt der beste Weg zum Ziel sind. Ohne angemessenen Schutz können staatliche Behörden diese Systeme dazu nutzen, die Menschen zu überwachen, Wähler zu profilieren oder ganze Communitys auszugrenzen. Privatunternehmen könnten es zu ihrem Vorteil nutzen, dass separate Datenbanken miteinander verlinkt werden können. Welche Auswirkungen das auf die Privatsphäre, Sicherheit und Online-Leben der Menschen haben könnte, verstehen wir bisher nur ansatzweise.
Die vielen Staatsregierungen, die immer noch über die Einführung eines landesweiten ID-Systems nachdenken, sollten aus diesen Beispielen eine Lehre ziehen. Die gerade entstehenden Forschungsinitiativen, die versuchen, diese Systeme und ihre positiven und negativen Auswirkungen auf das Leben der Menschen zu beurteilen, sind ein wichtiger Wegweiser für die Zukunft. Damit digitale ID-Systeme Bevölkerungsgruppen auch wirklich bestärken, muss bei ihrer Gestaltung und Umsetzung von Anfang an darauf geachtet werden, dass sie sich an verfassungsmäßige und internationale Menschenrechtsstandards halten.
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